Heute nichts erlebt. Auch schön.

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Früher reichte es, wenn man sonntags nicht gestorben ist. Heute muss man den Tag mindestens in ein Reel verpacken können, sonst gilt er als verschwendet. Wir leben in einer Welt, in der sogar Mittagsschläfchen produktiv sein müssen („Powernap“ klingt gleich nach Erfolgsgeheimnis) – und wer sonntags wirklich nichts erlebt hat, sollte wenigstens ein ästhetisches Foto von seiner Hafermilch posten.

Kurz: Die Leere muss inszeniert werden, sonst zählt sie nicht.

Das Nichts hat eine erstaunlich schlechte PR. Es steht auf To-do-Listen grundsätzlich ganz unten unter „Licht ausschalten“, wird nie auf Instagram gefeiert und findet in Kalendern schlicht nicht statt. Leere Tage sind wie weiße T-Shirts: unspektakulär, aber manchmal genau das, was man braucht.

Das Grundrauschen der Moderne

Ich bin nicht gegen schöne Erlebnisse. Ich bin gegen den Zwang, ständig welche erleben zu müssen. Gegen das leise Grundrauschen, das mir einflüstert: „Wenn du heute nichts erlebt hast, hast du was verpasst.“

FOMO – fear of missing out – ist wie ein überzuckertes Kleinkind auf einem Kindergeburtstag: laut, überdreht und überzeugt, dass alle anderen mehr Spaß haben – und ich gefälligst auch aufspringen soll. Jetzt.

Es zerrt an meinem inneren Frieden wie an einem zu kurzen Partyhütchen und wirft mit Konfetti aus Zweifeln. Und am Ende stellt sich raus: Ich habe nichts verpasst. Der Brunch war überteuert, der Sonnenuntergang verregnet, und das Beste an dem Festival war der Moment, als es vorbei war.

FOMO ist wie ein Dauerabo auf Unzufriedenheit. Immer ist irgendwer irgendwo glücklicher, schöner, inspirierter. Und ich? Sitzt da in meiner Jogginghose mit Dinkelkrümeln im Bauchnabel und denke: „Ich hätte heute echt mal rausgehen sollen.“

Hätte ich nicht. Vielleicht war genau dieser Tag – ohne Ereignis, ohne Bildbeweis – der friedlichste seit Wochen. Nur habe ich es nicht gemerkt, weil ich dachte, er müsste mehr hergeben.

Verzichtet. Nicht verpasst.

Es gibt eine Gegenbewegung zu FOMO. Sie heißt JOMO – joy of missing out. Und ja, sie hat weniger Follower, trägt kein Glitzer und macht auch keine Challenges. Aber sie ist ein echter Gamechanger.

JOMO ist der Moment, in dem ich absichtlich nicht hingehe. Nicht antworte. Nicht optimiere. Sondern auf der Couch liege und denke: „Alle sind auf diesem Event – und ich nicht. Auch schön.“

Es ist das süße Gefühl von selbstgewählter Stille. Von Verzicht, der sich nicht nach Mangel anfühlt, sondern nach Freiheit.

JOMO ist, wenn ich die Tür zur Welt offen lasse, aber einfach nicht rausgehe. Wenn der Tag ausklingt wie ein See ohne Wind. Nichts bewegt sich – und gerade das fühlt sich nach Frieden an.

Der Satz als Anker

Dieser Satz – unscheinbar, fast ein bisschen trotzig – ist für mich ein Anker geworden. Inmitten all der Selbstvermarktung, der Dauerpräsenz, der Idee, dass Leben nur dann etwas wert ist, wenn es laut genug erzählt wird. Ein stiller Satz, der mich zurückholt. Zu mir.

„Heute nichts erlebt, auch schön“ bedeutet: Ich bin da. Ich atme. Ich habe nicht permanent performt, aber vielleicht ein bisschen Frieden gefunden. Ohne Beweisfoto, ohne Sinnsuche, ohne Scrollen.

Und wenn ich das nächste Mal das Gefühl habe, ich sollte… müsste… könnte…
dann erinnere ich mich: Es ist kein Scheitern, wenn ich nicht dabei bin. Es ist kein Verlust, wenn ich mal nichts zu erzählen habe. Es ist keine verpasste Chance – sondern vielleicht ein stiller Treffer ins Schwarze.

Denn während draußen das Leben in Dauerschleife tanzt, darf ich mich auch mal hinsetzen. Nicht applaudieren, nicht mittanzen, nicht optimieren. Einfach nur sitzen. Gucken. Atmen.

Manchmal ist das Nicht-Erlebte der eigentliche Luxus: ein Tag ohne Zweck, ein Gedanke ohne Richtung, ein Moment ohne Zeugen.

Und wer weiß – vielleicht war genau dieser Tag, an dem ich nichts erlebt habe, der erste, an dem ich wieder bei mir war.

Auch schön.

💬 Und du?

Und du? Wann hast du dir zuletzt erlaubt, nichts zu erleben – ganz ohne schlechtes Gewissen, ohne Produktivitätshunger, ohne den Gedanken, etwas zu verpassen? Einfach nur da zu sein, ohne Plan, ohne Story, ohne Ziel? Gönn dir einen Tag ohne Agenda - und erzähl mir davon.

🧩 Dieser Text ist Teil meiner Blogserie Worte, die wirken“. Welcher Satz nächste Woche dran ist? Weiß ich noch nicht. Aber er findet mich – spätestens Sonntagabend.

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