Zeit heilt alle Wunden
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Wenn die Zeit wirklich alle Wunden heilen würde, wäre ich heute ein lückenlos zusammengesetztes Puzzle – ohne fehlende Teile, ohne Risse. Oder eine makellose Teetasse, die nie heruntergefallen ist. Stattdessen trage ich sichtbare und unsichtbare Sprünge mit mir herum. Manche sorgfältig gekittet, andere immer noch empfindlich. Und genau deshalb stolpere ich über diesen Satz: „Die Zeit heilt alle Wunden.“ Er klingt tröstlich – aber stimmt er wirklich?
Das Versprechen der Zeit
„Die Zeit heilt alle Wunden“ – das sagen wir, wenn uns nichts Besseres einfällt. Wenn wir neben jemandem sitzen, der gerade im Scherbenhaufen seines Lebens sitzt, und wir keinen Klebstoff dabei haben. Also schieben wir diese Redewendung rüber wie einen lauwarmen Tee: nicht besonders hilfreich, aber immerhin irgendwas.
Und ja, in der Theorie klingt es schön. Die Zeit als Handwerker, der alles wieder geradebiegt. Oder als Gärtnerin, die jede kahle Stelle neu erblühen lässt. In der Praxis aber kommt der Handwerker oft zu spät, vergisst Werkzeug – und die Gärtnerin lässt manche Pflanzen schlicht vertrocknen. Heilung sieht anders aus.
Was Zeit wirklich macht
Zeit ist kein Wunderheiler. Sie kaschiert, überdeckt, schiebt Dinge in den Hintergrund. Sie sorgt dafür, dass der erste Schmerz nicht mehr so grell ist. Aber die Wunde selbst – die bleibt. Vielleicht kleiner, vielleicht blasser, vielleicht nur noch als Narbe. Aber sie verschwindet nicht einfach, nur weil auf dem Kalender ein paar Blätter abgerissen wurden.
Ich erinnere mich an Dinge, die heute nicht mehr wehtun, aber Spuren hinterlassen haben. Entscheidungen, die sich nicht zurückdrehen lassen. Menschen, die fehlen. Worte, die nicht mehr zurückgenommen werden können. Die Narben erinnern mich: Das war einmal schlimm. Und es hat mich verändert.
Manchmal ist es auch nicht die Zeit, die heilt, sondern schlicht das Leben, das weitergeht. Neue Routinen, neue Gespräche, neue kleine Freuden. Ein Lächeln an der Supermarktkasse, ein Abend, an dem man plötzlich wieder laut lacht. Und dann merkt man: Die Wunde ist noch da – aber sie blutet nicht mehr.
Zeit ohne Handlung ist Stillstand
Und hier kommt die unbequeme Wahrheit: Nur warten reicht nicht. Wenn ich mir beim Stolpern das Knie aufschlage, kann ich mich nicht einfach aufs Sofa legen und sagen: „Die Zeit macht das schon.“ Nein, ich muss die Wunde auswaschen, ein Pflaster draufkleben, vielleicht sogar zum Arzt. Sonst entzündet sie sich. Und genau so ist es mit seelischen Verletzungen.
Zeit ist die Bühne, aber Heilung ist die Handlung. Gespräche führen. Schreiben. Verzeihen. Wut rauslassen. Nähe zulassen. Um Hilfe bitten. Irgendwann merken: Ich bin nicht mehr die gleiche Person wie damals. Ohne diese aktive Arbeit bleibt die Zeit ein ziemlich fauler Therapeut – einer, der in seiner Praxis hauptsächlich Sudoku löst und gelegentlich freundlich nickt.
Narben als Geschichten
Vielleicht liegt die eigentliche Kraft der Zeit darin, dass sie aus Wunden Geschichten macht.
Ein gebrochenes Herz wird zur Anekdote über den Ex, der nie einen neuen Witz parat hatte. Ein gescheitertes Projekt wird zur Erfahrung, die man lachend erzählt, wenn man später auf einer besseren Idee sitzt. Ein Verlust bleibt schmerzhaft – und gleichzeitig wächst mit den Jahren die Dankbarkeit, überhaupt diese Person oder Phase erlebt zu haben.
Narben sind nicht nur Spuren, sie sind Kapitelmarken. Sie sagen: Hier hat es wehgetan – und hier bin ich trotzdem weitergegangen.
Die halbe Wahrheit
Am Ende glaube ich nicht an „Die Zeit heilt alle Wunden“. Ich glaube daran, dass wir lernen, mit unseren Narben zu leben. Dass wir sie manchmal sogar stolz tragen – als Erinnerung daran, dass wir mehr überstanden haben, als wir uns selbst je zugetraut hätten.
Zeit allein heilt nicht. Sie gibt uns höchstens die Chance, heilende Dinge zu tun. Manchmal verwandelt sich Schmerz dann in Stärke oder Mitgefühl – und manchmal begleitet er uns für immer, wie ein Hintergrundrauschen, das nie ganz verstummt.
💬 Und du?
Welche Narbe trägst du stolz – und bei welcher hoffst du noch auf das Wunder der Zeit?