Weniger ist mehr

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Ich habe lange gedacht, dass mehr immer besser ist. Mehr Möglichkeiten, mehr Sicherheit, mehr „aus seinem Leben machen“.

Und irgendwann habe ich gemerkt: Je voller alles wurde, desto weniger habe ich davon wirklich gespürt.

Wir sind so daran gewöhnt, ständig eine Schippe draufzulegen, dass sich „weniger“ schnell nach Scheitern anfühlt: weniger Geld, weniger Tempo, weniger Projekte. Dabei ist weniger oft gar kein Downgrade – es ist nur anders. Und manchmal ist genau dieses anders das, was wir gerade brauchen.

Das Missverständnis mit dem „Mehr“

„Mehr“ verkauft sich gut: mehr Auswahl, mehr Features, mehr Reichweite, mehr Umsatz.

Mit der Zeit rutscht diese Logik nach innen. Wenn mehr von allem besser ist, dann muss doch auch mehr von mir besser sein – mehr leisten, mehr erleben, mehr nutzen. Nur kommt dieses Mehr mit Nebenwirkungen: mehr Entscheidungen, mehr Verantwortung, mehr Vergleich und mehr von diesem leisen „Ich müsste eigentlich noch…“.

Ab einem bestimmten Punkt ist es nicht mehr Fülle, sondern einfach nur voll.

Wenn das Leben überfüllt ist

Ein übervoller Kleiderschrank, in dem du trotzdem nichts zum Anziehen findest – so kann sich ein Leben anfühlen, in das zu viel reingestopft wurde.

Von außen klingt es nach: „Da passiert aber viel.“ Von innen eher nach: „Ich weiß nicht mehr, wofür ich mich eigentlich entschieden habe.“

Zu viel kann sich so zeigen, dass dein Kalender so dicht ist, dass du nur noch in den Zwischenräumen lebst, dein Kopf zwar müde, aber nicht wirklich zufrieden ist und sich alles gleichzeitig wichtig anfühlt, ohne dass irgendetwas wirklich Tiefe bekommt.

Manchmal sorgt das Leben dann selbst für weniger. Ein Job endet, ein Plan platzt, eine Tür geht zu. Von außen sieht das nach Verlust aus. Von innen entsteht – nach der ersten Panik – plötzlich Platz.

Weniger ist nicht romantisch

„Ich hab mich bewusst für weniger entschieden“ klingt hübsch. In echt heißt „weniger“ oft, dass weniger Geld da ist, dafür aber mehr Zeit; dass es weniger Projekte gibt, diese aber besser zu dir passen; und dass du weniger das Gefühl hast, alles mitnehmen zu müssen, weil du öfter absagst, auch wenn es schade ist.

Das fühlt sich nicht immer frei an, manchmal einfach nur unbequem. Aber es beantwortet eine ehrliche Frage: Wie viel Leben passt gerade wirklich gut zu mir?

Zwischen Verlustangst und Freiheit

Weil wir „mehr“ so verinnerlicht haben, wirkt „weniger“ automatisch wie Mangel. Dabei steckt darin oft Gestaltungsfreiheit. Weniger Verpflichtungen können bedeuten, dass du spontaner atmen und leichter mal eine Pause machen kannst. Weniger Optionen können dafür sorgen, dass du nicht jeden Tag dein komplettes Leben infrage stellst, sondern in das hineinsinkst, was schon da ist. Und weniger Input – weniger Scrollen, weniger Newsletter, weniger „Ich schau nur kurz rein“ – kann helfen, die eigenen Wünsche wieder zu hören, ohne dass sie im Dauerrauschen von außen untergehen.

Weniger bedeutet nicht automatisch Armutsromantik. Es bedeutet vor allem, bewusster zu wählen, was bleiben darf – und was gehen kann.

Das leise Alternativ-Leben

Ich trage zwei Versionen meines Lebens im Kopf:

Version A ist das große, volle, beeindruckende Leben, mit Karrierestory, „krassen Projekten“ und einer ordentlichen „Und dann hab ich…“-Liste. Version B ist das leise, stimmige Leben, mit genug Geld statt maximal viel, mit Zeit zum Atmen und mit Dingen, die keiner likt, die mir aber viel bedeuten.

Oft behandele ich Version B wie Plan B – den Trostpreis, falls A nicht klappt. Was aber, wenn es andersherum ist? Wenn weniger Außenwirkung manchmal mehr Innenwirkung bedeutet? Nicht jede Möglichkeit muss genutzt werden. Nicht jedes „Könnte ich“ braucht ein „Mach ich auch noch“.

Wie sich weniger anfühlen kann

Ich bin keine Minimalismus-Ikone, aber ich merke ein paar Dinge, wenn ich auf „weniger“ schalte. Wenn ich weniger gleichzeitig will, wird mein Alltag leichter, weil ich anerkenne, dass ich nicht alles zugleich haben kann: den fetten Businessplan, das Vorzeige-Social-Life, den perfekten Haushalt und die tiefste Selbsterkenntnis. Wenn ich weniger erkläre und mir erlaube, Entscheidungen einfach mit „Es passt gerade besser zu mir“ zu begründen, fühlt sich mein Leben weniger wie eine Präsentation vor einem unsichtbaren Publikum an. Und wenn ich weniger Input zulasse, weniger scrolle und weniger vergleiche, höre ich meine eigene Stimme wieder klarer.

Weniger ist selten spektakulär. Aber es schafft Raum, den ich vorher nicht bemerkt habe, weil alles vollgestellt war.

Und jetzt?

Weniger klingt schnell nach Aufgeben: nach nicht genug gewollt, nicht genug gekämpft, nicht genug durchgezogen.

Aber vielleicht ist „weniger“ manchmal das Ergebnis von sehr genauem Hinsehen: Was trägt mich wirklich? Was ist nur laut? Was passt zu meinem Leben jetzt – nicht zu irgendeiner idealen Version davon?

Am Ende wird dich vermutlich niemand daran messen, wie voll du dein Leben gekriegt hast, wie viele Projekte du abhaken oder wie viel du gesammelt hast. Sondern daran, ob du es wirklich gelebt hast – und nicht nur organisiert. Und dafür braucht es manchmal radikal weniger von allem – damit radikal mehr von dir übrig bleibt.

💬 Und du?

Wo ist dein Leben gerade eher voll als stimmig?

Gibt es eine kleine Sache, auf die du bewusst verzichten könntest – nicht als Strafe und nicht als Selbstoptimierung, sondern als Experiment: Was passiert, wenn hier aus „mehr“ einmal ganz bewusst „weniger“ wird?

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