Immer noch unterwegs

 Lesezeit: ca. 6 Minuten

Ich habe lange gewartet, dass ich „fertig“ bin.
Mit mir. Mit meinem Leben. Mit diesem diffusem Innenausbau, von dem alle reden, wenn sie sagen: „Ich hab mich gefunden.“

In meinem Kopf sah das so aus:
Irgendwann in der Zukunft gibt es eine Version von mir, die alles verstanden hat.
Die immer weiß, was sie will.
Die keine Angst mehr hat, keine Selbstzweifel mehr kennt, Routinen hat wie ein Hochleistungsroboter und Emotionen wie eine sehr ausgeglichene Therapeutin.

Und bis ich diese Version erreicht habe, bin ich eben… im Beta-Modus.
Noch nicht richtig. Noch nicht fertig.
So wie eine Software, die ständig Updates ankündigt, aber nie in der finalen Version erscheint.

Das geheime Versprechen von „fertig“

„Fertig sein“ klingt nach Ruhe.
Nach: Ich kann mich hinsetzen, tief durchatmen und sagen:
So. Ab hier wird’s easy.

Keine inneren Kämpfe mehr, keine Sinnkrisen, keine Nächte, in denen ich zu lange in die Dunkelheit starre und mich frage, ob ich eigentlich völlig falsch abgebogen bin.

Fertig sein bedeutet in meiner Fantasie:

Ich weiß, wer ich bin.
Ich weiß, was ich will.
Ich weiß, wie ich dahin komme – und mach es dann einfach.

Es ist dieses geheime Versprechen:
Wenn ich nur lange genug an mir arbeite, wenn ich genug Bücher lese, genug Therapie mache, genug Journaling betreibe, genug Podcasts höre –
dann komme ich irgendwann an.

Und jedes Mal, wenn ich merke, dass ich immer noch zweifle, immer noch schwanke, immer noch Phasen habe, in denen ich mich frage, was ich hier eigentlich tue, denke ich:
„Na super. Schon wieder nicht geschafft. Immer noch nicht fertig.“

Das Leben als Dauerschleife

Irgendwann ist mir aufgefallen, dass ich ein Muster habe: Ich denke, bestimmte Themen wären „abgehakt“.

Ein alter Glaubenssatz, den ich „aufgelöst“ habe.
Ein Konfliktmuster, das ich „verstanden“ habe.
Eine Angst, die ich „durchgearbeitet“ habe.

Und dann – Überraschung – komme ich ein Jahr später an einen neuen Punkt in meinem Leben, treffe neue Menschen, stehe vor neuen Entscheidungen.
Und zack:
Der gleiche Glaubenssatz winkt wieder freundlich aus der Ecke.
Die gleiche Angst zieht sich einen neuen Mantel an.
Das gleiche Muster taucht einfach auf einem neuen Level wieder auf.

Früher hat mich das wahnsinnig gemacht.
Ich dachte: „Wie oft denn noch? Das hatte ich doch schon! Ich will das jetzt nicht nochmal durchkauen. Ich war doch damit fertig!“

Bis es irgendwann Klick gemacht hat:
Vielleicht bin ich nicht gescheitert.
Vielleicht ist das einfach das System.

Das Leben läuft nicht linear.
Es ist nicht: Problem – Erkenntnis – Lösung – fertig.
Es ist eher:
Problem – Erkenntnis – halbwegs Lösung – neuer Lebensabschnitt, neue Konstellation – gleiche Dynamik, andere Farben.

Wie eine Serie, in der jede Staffel das gleiche Grundthema hat, aber mit anderen Schauplätzen, neuen Nebenfiguren und leicht abgewandelten Dialogen.

Phasen, die sich wiederholen – aber nicht gleich bleiben

Wenn man genauer hinschaut, läuft so vieles in Schleifen:

  • Anfangen: Etwas Neues wagen. Aufregung, Unsicherheit, Vorfreude.

  • Drin sein: Es läuft. Ich funktioniert. Ich mache einfach.

  • Zweifeln: War das eine gute Idee? Bin ich überhaupt geeignet?

  • Kriseln: Nichts fühlt sich mehr richtig an. Ich möchte alles hinschmeißen.

  • Neu sortieren: Pausieren, reflektieren, anpassen.

  • Weitergehen: Mit neuen Erkenntnissen zurück ins Leben.

  • …und dann, Überraschung: nächster Anfang.

Diese Phasen tauchen überall auf:
In Beziehungen. Im Job. In kreativen Projekten. In der eigenen Identität.

Und ja, es sind ähnliche Themen.
Aber ich bin nicht mehr die gleiche, die ich vor fünf, vor drei oder auch nur vor einem Jahr war.

Es ist keine Endlosschleife, in der ich wie eine kaputte Schallplatte immer wieder an der gleichen Stelle hänge.
Es ist eher eine Spirale: Ich drehe zwar Runden um das gleiche Zentrum, aber nicht auf derselben Ebene.

Ich komme zurück zu alten Fragen – aber aus einer neuen Perspektive.
„Bin ich gut genug?“ klingt mit 15 anders als mit 36.
„Was will ich wirklich?“ fühlt sich anders an, wenn man allein ist oder mit Familie.
Die Fragen bleiben – die Antworten verändern sich.

Die Illusion vom Endzustand

Das Problem an der Idee von „fertig sein“, ist, dass sie so tut, als gäbe es einen Endzustand, nach dem nichts mehr wackelt.

Aber das Leben ist nicht dafür gemacht, stabil zu bleiben.
Es verändert sich ständig. Menschen kommen und gehen. Umstände ändern sich. Bedürfnisse verschieben sich. Prioritäten rotieren leise im Hintergrund.

Wenn ich erwarte, dass ich irgendwann an einem Punkt lande, an dem nichts mehr in Bewegung ist, dann renne ich einer Fata Morgana hinterher.
Je näher ich ihr komme, desto weiter zieht sie sich zurück.

Und während ich damit beschäftigt bin, verzweifelt meinem imaginären „fertigen Ich“ hinterherzulaufen, verpasse ich das, was gerade ist:
die Zwischenräume, die halbgaren Stadien, die unfertigen Momente, in denen das Leben eigentlich passiert.

Ein Prozess, kein Projekt

Ich muss aufhören, mich als Projekt zu sehen, das irgendwann „abgeschlossen“ ist.
Stattdessen muss ich anfange, mich als Prozess zu begreifen.

Prozesse sind in Bewegung. Sie dürfen Zwischenstände haben und werden nicht „fertig“, sie entwickeln sich weiter.

Und plötzlich verändert sich der Ton im Kopf:

„Ich muss endlich fertig werden“ wird zu: Ich darf mitten drin sein.
Aus „Warum ist das Thema schon wieder da?“ wird: Klar, es meldet sich nochmal – aber ich bin dieses Mal nicht mehr dieselbe.

„Ich bin gescheitert, weil ich immer noch strauchle“ wird zu: Ich bin unterwegs. Und unterwegs sein sieht manchmal chaotisch aus.

Und jetzt?

Ich bin immer noch nicht fertig.
Ich werde es nie sein.
Und an manchen Tagen nervt mich das immer noch.

Aber ich merke, wie etwas leichter wird.
Ich muss mich nicht jedes Mal verurteilen, wenn ich wieder zweifle.
Ich muss nicht so tun, als wäre ich weiter, nur um mich selbst zu beeindrucken.
Ich darf zugeben, dass ich an manchen Tagen einfach nur ungefähr weiß, was ich tue.

Das Leben hat einen Anfang und ein Ende.
Dazwischen dreht es Schleife um Schleife, Phase um Phase, Version um Version.

Vielleicht geht es nicht darum, irgendwann sagen zu können: „Ich bin fertig.“
Vielleicht reicht es zu sagen: Ich bin da.

💬 Und du?

Und du? Rennst du deinem fertigen Ich noch hinterher oder winkst du ihm schon zu und machst ohne weiter?

Prozessdiagramm
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Weniger ist mehr

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Ich hab’s gegoogelt.