Du kannst alles schaffen…
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…wenn du nur möchtest.
Das ist einer dieser Sätze, die sich auf Postkarten, Tassen und in Instagram-Feeds besonders wohlfühlen. Meist in geschwungener Schrift, gern mit Sonnenuntergang im Hintergrund oder einer Frau, die auf einem Berggipfel die Arme ausbreitet, als wäre sie die menschgewordene Freiheitsstatue der Selbstoptimierung.
Und ich gebe zu: Ein kleiner Teil von mir möchte diesen Satz gern glauben. Er klingt nach grenzenlosen Möglichkeiten, nach einem Buffet voller Erfolge, an dem ich mich nur bedienen muss. Aber je öfter ich den Satz im Kopf herumdrehe, desto häufiger stolpere ich über Fragen: Stimmt das überhaupt? Oder ist es nur ein hübsches Märchen aus der Motivationsküche?
Die Sache mit dem Wollen
“Du kannst alles schaffen, wenn du nur möchtest.“ – Das impliziert, dass Erfolg ausschließlich eine Frage des Wollens ist. Also: Wenn ich kein Haus auf Mallorca, keinen Bestseller oder keine olympische Goldmedaille habe, dann liegt das allein daran, dass ich nicht wirklich wollte.
Das klingt nach Empowerment – ist in Wahrheit aber ein ziemlich perfider Vorwurf. Denn wenn Wollen gleich Können ist, wird Scheitern automatisch zum persönlichen Versagen. Krank geworden? Nicht genug gewollt. Kein Geld für Startkapital? Tja, zu wenig Wille. Die äußeren Umstände? Pfff, Nebensache.
Kurz: Übersetzt bedeutet der Satz also auch “Wenn du’s nicht hinkriegst, bist du selbst schuld.”
Realitätscheck
Natürlich gibt es Bereiche, in denen Wollen unglaublich viel bewirken kann. Wer wirklich für ein Ziel brennt, findet Energie, Durchhaltevermögen und Lösungen, die man vorher nicht für möglich gehalten hätte. Ich schreibe schließlich auch gerade diesen Blog statt Netflix zu gucken.
Aber es gibt auch Grenzen. Körperliche, finanzielle, gesellschaftliche. Ich könnte mich noch so sehr anstrengen – Profiballerina in der Pariser Oper werde ich nicht mehr. (Ganz zu schweigen davon, dass mir für Tutu und Spitzenschuhe eindeutig das Startkapital fehlt.)
Der Satz blendet also einen ziemlich großen Teil der Realität aus: Chancen, Privilegien, Startbedingungen. Und tut dabei so, als hätten wir alle dieselbe Ausgangslage. Haben wir aber nicht.
Jenseits von Alles
Und genau hier zeigt sich: Dieses vermeintliche Alles existiert nur in Sprüchen, nicht in der Wirklichkeit. Alles klingt nach Superheldenkostüm und Hollywood-Soundtrack. Aber Hand aufs Herz: Niemand von uns springt in einem Satz vom Sofa zum Olymp.
Die Wahrheit ist: Wir können Vieles schaffen – Projekte, Träume, Veränderungen. Aber eben nicht alles.
Und weißt du was? Vieles ist mehr als genug. Vor allem, wenn man bedenkt, wie schwer es manchmal schon sein kann, die Waschmaschine rechtzeitig auszuräumen.
Also nein, ich kann nicht alles schaffen. Auch nicht, wenn ich es mir ganz doll wünsche. Ich werde weder Astronautin, noch Superheldin und wahrscheinlich auch keine Weltmeisterin im Wettsockenfalten oder die nächste Nobelpreisträgerin für angewandte Prokrastination.
Aber ich kann den Satz nutzen – als kleinen Schubser, um größer zu denken, als Erinnerung daran, dass da mehr in mir steckt, als der Alltag mich manchmal glauben lässt. Aber ich verwechsle ihn nicht mehr mit der Realität. Denn er ist keine Garantie, sondern höchstens ein Impuls.
Wer behauptet, man könne wirklich alles schaffen, verschweigt die Grenzen – und schiebt am Ende die Schuld denjenigen zu, die nicht dort ankommen, wo das Poster es verspricht. Und genau davor sollten wir uns hüten.
💬 Und du?
Hast du schon mal gemerkt, dass ein Satz, der dich motivieren sollte, dich eigentlich klein gemacht hat?