Gedankenkater

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Ich trinke eigentlich keinen Alkohol – und wache trotzdem oft auf und fühle mich, als hätte ich innerlich eine Flasche Drama auf ex geleert. Kein Gin Tonic, keine Weinschorle, nicht mal ein Radler. Nur ich, meine Gedanken und dieses ganz spezielle Kopf-Dröhnen am nächsten Morgen. Gedankenkater eben.

Das sind diese Nächte, in denen der Tag längst vorbei ist, aber mein Hirn noch „Aftershow-Party!“ ruft. Ein Gedanke stolpert in den nächsten, irgendwer macht die Musik lauter, irgendwo in der Ecke mischt jemand heimlich Worst-Case-Szenarien in die Bowle und spätestens, wenn ich eigentlich schlafen sollte, diskutiert mein Kopf mit mir, ob ich mich heute grundsätzlich als Mensch disqualifiziert habe – oder ob es erst morgen so weit ist.

Wenn der Kopf über den Durst denkt

Der nächtliche Gedankencocktail für den Kater am nächsten Morgen beginnt meisten harmlos. Mit Gedanken wie: „Das Gespräch vorhin war komisch.“ Dann kommt: „Vielleicht warst du komisch.“ Und bevor ich „Gute Nacht“ sagen kann, stehe ich mitten in einem Kopfkino, in dem ich mich in allen Rollen gleichzeitig blamiere.

Ich spiele jede Szene nach. Was ich gesagt habe. Was ich nicht gesagt habe. Was ich hätte sagen können, wenn ich ein souveräner, geerdeter, innerlich total klarer Mensch wäre. Zwischendurch ein schneller Abstecher in alte Geschichten, die eigentlich längst archiviert sein müssten. Plötzlich ist 2014 wieder da und erinnert mich daran, dass ich schon immer ein bisschen peinlich war.

Je später es wird, desto weniger Realität ist noch drin. Aus „War das unglücklich formuliert?“ wird „Alle finden dich schwierig.“ Aus „Das war heute echt viel.“ wird „Du bist für dieses Leben nicht geeignet.“ Und aus „Ich bin müde“ wird „Ich halte mich selbst nicht aus.“

Kein Wunder, dass mein Nervensystem am nächsten Morgen mit Kopfschmerzen aufwacht.

Der Morgen danach

Am Morgen fühlt sich nichts mehr so groß an wie nachts – aber der bittere Nachgeschmack ist noch da. Ich weiß noch, was ich gedacht habe, aber der Ernst, den ich da reingelegt habe, fühlt sich plötzlich übertrieben an. Wie eine Sprachnachricht, die man sich am nächsten Tag noch mal anhört und merkt: Der Inhalt ist derselbe, aber die Dramatik war eindeutig übertrieben.

Ich schaue auf den Tag und sehe: Es ist nichts explodiert. Niemand hat mir gekündigt, niemand ist verschwunden, niemand hat mir eine empörte „Wir müssen reden“-Nachricht geschickt. Die Welt ist erstaunlich unbeeindruckt von meinem inneren Drama.

Aber in mir drin hängt noch dieser Rest: Müdigkeit, Selbstzweifel, dieses diffuse Gefühl, mich gestern Nacht emotional betrunken zu haben. Ich bin nicht ausgeschlafen, ich bin ausgelaugt von Szenen, die nie stattgefunden haben.

Früher habe ich mich dann zusätzlich verurteilt. Für den Gedankenkater selbst. „Andere haben echte Probleme, du machst dir Drama im Kopf.“ Als wäre das hilfreich. Als könnte man einen Kater dadurch vertreiben, dass man ihn beschimpft. Spoiler: kann man nicht. Man fühlt sich nur gleichzeitig schlecht und dumm.

Was bei Gedankenkater wirklich hilft

Statt mein nächtliches Gedankenfeuerwerk zu bekämpfen, übe ich, es als überdrehten Schutzmechanismus zu sehen. Die Stimme, die nachts so laut wird, versucht nicht, mich fertigzumachen. Sie versucht, mich zu schützen – nur eben mit völlig übertriebenen Mitteln, weil ihr niemand rechtzeitig gesagt hat: „Es reicht für heute.“

Also versuche ich zumindest morgens nicht gleich in die nächste Runde Selbstkritik zu starten, sondern kurz Inventur zu machen. Was ist wirklich passiert – und was war nur in meinem Kopf? Manchmal schreibe ich die lautesten Sätze kurz auf. Schon auf Papier sehen sie weniger bedrohlich aus. „Alle finden dich schwierig“ schrumpft zu „Eine Person hat irritiert geguckt.“ „Du bist für dieses Leben nicht geeignet“ wird zu „Heute war viel, du bist erschöpft.“ Der Ton ändert sich – und plötzlich ist da weniger Anklage und mehr Verständnis.

Vielleicht ist das die eigentliche Arbeit: nicht darauf zu warten, dass der Gedankenkater nie wieder kommt, sondern zu lernen, wie man am Morgen freundlich mit sich umgeht, wenn die fiesen Gedanken mal wieder die Nacht durchgefeiert haben.

Und jetzt?

Wahrscheinlich geht es gar nicht darum, gedanklich nie wieder über den Durst zu trinken. Vielleicht reicht es fürs Erste, am Morgen nicht mehr so zu tun, als hätte ich mir das alles absichtlich eingeschenkt. Mein Kopf reagiert auf Überforderung, auf Angst, auf zu wenig Pause – nicht auf meine moralische Minderleistung. Ich kann ihn nicht zum Schweigen zwingen, aber ich kann entscheiden, ob ich ihn dafür bestrafe oder ihm ein Glas Wasser hinstelle.

Am Ende ist Gedankenkater nämlich kein Beweis dafür, dass ich versagt habe, sondern dass ich fühle. Und ich entscheide, ob ich mich dafür bestrafe – oder mir endlich selbst verkatert die Hand reiche.

💬 Und du?

Kennst du das auch – Nächte, in denen du dich in Gedanken betrinkst und morgens mit schlechtem Kopfgefühl aufwachst? Wie gehst du mit Gedankenkater um?

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Ich, Systemfehler.