Ich, Systemfehler.

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Ich wäre manchmal gerne jemand anders.

Nicht dauerhaft, keine Sorge. Nur so tageweise. Wie ein Leihwagen für die Persönlichkeit: einmal bitte „Standardausführung Mensch“, vollgetankt mit Angepasstheit, TÜV-geprüfter Belastbarkeit und einem Navi, das zuverlässig den Weg durch Formulare, Team-Meetings und Elternabende findet.

Stattdessen bin ich halt ich. Mit Sonderausstattung „zu viel denken“, „zu viel fühlen“ und „zu viele Fragen stellen, wenn alle anderen längst zum Tagesordnungspunkt Sonstiges übergegangen sind“.

Und an manchen Tagen kann ich darüber lachen.
An allen anderen möchte ich mir selbst eine Abmahnung schreiben.

Wenn alle wissen, wie man das so macht

Es gibt diese Momente, in denen ich mich fast passend fühle. Wenn ich brav zur richtigen Zeit am richtigen Ort auftauche, verstehe, was von mir erwartet wird, und es sogar halbwegs hinbekomme. Ich lächle an den passenden Stellen, nicke, wenn man nicken sollte, und bringe mich ein, ohne aufzufallen. Es ist wie ein gut verkleideter Kostümball, bei dem ich es schaffe, niemandem auf die Füße zu treten.

Und dann gibt es die anderen Tage.

Die, an denen alle irgendwie wissen, wie „man das so macht“ – und ich innerlich noch bei Frage eins hänge: „Wer ist eigentlich ‘man’ und warum entscheidet der über mein Leben?“

Alle füllen ihre Steuererklärung aus, haben Ordner mit Registerblättern, eine Hausbank und so etwas wie „strategische Lebensplanung“. Ich habe Gedanken-Chaos, ein Notizbuch mit 47 angefangenen Ideen, und Emotionen. Viele. Tendenziell unangemessen.

Alle scheinen zu wissen, wie man Karriere macht, Netzwerke pflegt, sich nicht zu viele Gedanken darüber macht, was „später mal“ ist. Ich weiß oft nicht mal, was „heute“ ist, außer: wieder ein Tag, an dem ich versuche, mich nicht komplett fehl am Platz zu fühlen.

Ich kämpfe häufig mit dem hartnäckigen Gefühl, dass alles leichter wäre, wenn ich einfach ein bisschen weniger ich wäre.

Wenn ich nicht alles hinterfragen würde.
Wenn ich nicht spüren würde, dass etwas nicht stimmt, obwohl auf dem Papier alles richtig aussieht.
Wenn ich nicht dieses innere Radar hätte für Ungerechtigkeit, für unausgesprochene Erwartungen, für Rollen, in die wir reinschlüpfen, ohne zu merken, dass sie uns zu eng sind.

Manchmal wünsche ich mir, ich könnte einfach „funktionieren“. Alarm aus, Emotionen im Flugmodus, Zweifel in den Papierkorb.
Einfach machen, was man halt so macht.
Nicht immer dieses diffuse Gefühl haben, daneben zu stehen – und mir dazu auch noch die passende URL zu sichern.

Sinnvoll daneben.
An guten Tagen klingt das nach Haltung.
An schlechten nach „Herzlichen Glückwunsch, du bekommst die Ehrenurkunde für ‘Passt hier nicht so richtig rein’“.

Ich mache mir dann eine imaginäre Liste: Dinge, die an mir offenbar nicht systemkompatibel sind.

Zum Beispiel, dass ich mir zu viele Gedanken darüber mache, wie sich andere fühlen, statt einfach stumpf meinen Job zu machen. Dass ich Strukturen, Hierarchien, „das war schon immer so“-Sätze nicht gut ertrage. Dass ich mich in Räumen, in denen man seine Persönlichkeit an der Garderobe abgibt, noch unsichtbarer fühle als ohnehin.

Es frustriert mich, wie stark ich manchmal das Bedürfnis habe, einfach mitzuschwimmen. Nicht aufzufallen. Nicht die zu sein, die alles anders macht, die wieder „ihre eigenen Wege“ geht, die lieber neue Möglichkeiten näht, statt in fertige Schablonen zu passen.

Mir ist bewusst, dass ich nicht die Einzige bin, der es so geht. Es gibt genug Menschen, denen das alles auch zu eng, zu laut, zu schnell ist – und die es trotzdem irgendwie schaffen, ihren Frieden damit zu machen. Die sich arrangieren, Nischen finden, das Ganze innerlich mit einem Schulterzucken verbuchen. Genau dieser Frieden will sich bei mir einfach nicht dauerhaft einstellen. Ich kann mich eine Zeit lang anpassen, aber innerlich bleibt immer jemand, der am System rüttelt und fragt, ob das wirklich alles so gedacht war.

Und so habe ich den immer gleichen inneren Konflikt:
Der Teil in mir, der Freiheit will, kollidiert regelmäßig mit dem Teil, der endlich mal einen Stempel „richtig gemacht“ auf der Stirn haben möchte.

Spezialgerät statt Serienmodell

Manchmal frage ich mich, ob das System wirklich so eng ist – oder ob ich mir das erzähle, um mich nicht damit auseinandersetzen zu müssen, dass ich mir selbst oft im Weg stehe.

Denn die Wahrheit ist: Ich passe ja in manches ganz gut rein.
Ich kann pünktlich sein, zuverlässig, höflich. Ich kann Deadlines halten, Listen schreiben, Rechnungen bezahlen, To-dos abarbeiten. Ich kann mich anpassen, Kompromisse finden, nicht jede innere Revolution nach außen tragen.

Aber da ist eine Grenze, und die merke ich körperlich.
Da, wo es nicht mehr nur anstrengend, sondern falsch wird.
Wo ich das Gefühl habe, ich müsste mich so weit von mir weg bewegen, dass ich mich irgendwann nicht mehr wiederfinde.

Und genau da fängt der richtige Frust an.
Nicht der „alles ist mir zu viel“-Frust, sondern der leise, klebrige: „Warum kannst du nicht einfach so sein wie die anderen, dann wäre es jetzt leichter“-Frust.

Vielleicht liegt das Problem gar nicht darin, dass ich nicht passe, sondern dass ich mich die ganze Zeit an der falschen Referenz orientiere.

Wenn ich mich mit Menschen vergleiche, die sich im System zuhause fühlen, werde ich immer verlieren.
Nicht, weil sie besser sind, sondern weil sie für etwas anderes gebaut sind.

Es ist wie der Versuch, eine Nähmaschine dafür zu kritisieren, dass sie keine Schrauben festziehen kann. Natürlich kann sie das nicht. Dafür ist sie nicht gemacht. Sie kann andere Dinge: Stoffe verbinden, aus flachen Teilen etwas Dreidimensionales machen, aus Resten etwas Neues entwerfen.

Vielleicht bin ich genau das: keine Standardmaschine, sondern eher ein Spezialgerät.
Nicht für alles zu gebrauchen. Aber für ein paar wenige Sachen ziemlich gut.

Der Haken ist nur: Spezialgeräte fallen in standardisierten Systemen auf – und nicht immer positiv.

Und jetzt?

Je älter ich werde, desto mehr merke ich: Ich brauche beides.
Räume, in denen ich mit meinem ganzen „Zu viel“ auftauchen darf. Mit meinen Fragen, meinen Zweifeln, meinen wilden Ideen. Räume, in denen ich nicht das Gefühl habe, ich müsste mich kleiner falten, um in die Schublade zu passen.

Und gleichzeitig Strukturen, die mich halten. So viel System, dass ich meine Miete zahlen, meine To-dos organisieren und mein Leben halbwegs zusammenhalten kann.

Also bastle ich mir mein eigenes Mischwesen: ein Leben, das ein Stück weit am System vorbeiläuft, aber trotzdem mit ihm verhandelt. Ein Arbeitsalltag, der nicht in klassische Schablonen passt, aber genug Schnittstellen hat, damit ich nicht komplett rausfalle.

Vielleicht ist es genau das, was mich am meisten ärgert:
Dass ich mir mein eigenes System bauen muss, statt einfach eins von der Stange zu nehmen.
Dass ich immer wieder aussortieren, anpassen, umräumen muss, damit es sich stimmig anfühlt.
Dass „ich sein“ so viel aktive Arbeit ist.

Aber wenn ich ganz ehrlich bin, weiß ich auch:
Die gleichen Anteile, die mich in starren Systemen scheitern lassen, sind die, die mich kreativ machen. Die, die mich Dinge hinterfragen lassen, bis etwas Neues entsteht. Die, die mich spüren lassen, wenn etwas nicht mehr passt – und mich zwingen, hinzuschauen.

Ich weiß nicht, ob ich irgendwann aufhöre, mir zu wünschen, ich wäre „einfacher“.
Aber ich weiß inzwischen: Jedes Mal, wenn ich versuche, jemand anders zu sein, wird alles leer. Und jedes Mal, wenn ich wieder zu mir zurückkomme, wird es anstrengend – aber lebendig.

💬 Und du?

An welcher Stelle versuchst du gerade noch, dich passend zu machen, obwohl dein Leben längst nach einer eigenen Form fragt?

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