Fühlen ohne Filter.

Was ich kann, Teil 6: Fühlen. Leider alles.

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Psychologisch betrachtet gibt es sieben Grundemotionen: Freude, Traurigkeit, Überraschung, Wut, Angst, Ekel und Verachtung.

Und aus irgendeinem Grund wohnen sie alle bei mir. In meinem Kopf. In einer Art emotionaler Chaos-WG.

  • Freude ist das seltene Glitzer-Einhorn, das manchmal mit Kuchen vorbeischaut, aber nie sagt, wie lange es bleibt.

  • Traurigkeit hängt in der Küche rum, trägt übergroße Pullover, isst Cornflakes ohne Milch und hört immer denselben melancholischen Song auf Repeat.

  • Überraschung platzt ungefragt mitten in Gespräche oder steht plötzlich im Türrahmen mit einem Luftballon oder einem Ziegelstein – je nach Laune.

  • Wut knallt Türen, verflucht die Kaffeemaschine und hasst ungerechtfertigte Kritik. (gerechtfertigte auch.)

  • Angst schläft nie, hat einen Notfallplan für alles – sogar für den Notfallplan.

  • Ekel desinfiziert Türklinken und Menschen mit seltsamen Meinungen.

  • Verachtung trägt Rollkragen, schaut herablassend und sagt: „Ich hab’s ja gleich gesagt.“

Und ich? Ich bezahle die Miete. Und frage mich täglich, wer diese Leute eigentlich eingeladen hat.

Grundgefühle. Grundlegend fragwürdig.

Ganz ehrlich: Wer die sieben Basis-Emotionen zusammengestellt hat, hatte entweder Humor – oder ein echtes Problem.

Denn wenn man sich das mal anschaut: eine angenehme Emotion (Freude), eine neutrale (Überraschung, je nach Tagesform) – und fünf Kandidaten aus der Hölle. Das ist wie ein Buffet, bei dem sechs von sieben Schüsseln „Achtung, Magenverstimmung“ schreien.

Jetzt kombiniere das mit einem Innenleben, das auf Maximal-Empfang läuft – und du verstehst vielleicht, warum ich öfter mal raus will aus meinem eigenen Kopf.

Emotional volle Lautstärke. Ohne Regler.

Ich habe früh gemerkt: Ich fühle anders als andere. Nicht öfter – aber stärker. Tiefer. Ungefilterter.

Was bei anderen eine Welle ist, ist bei mir ein Tsunami. Was bei anderen ein dumpfes Grollen ist, reißt mir von innen die Rippen auf.

Aber das hat mir niemand erklärt. Stattdessen hörte ich Sätze wie:

„Du bist zu sensibel.“

„Reagier doch nicht so über.“

„Andere kriegen das auch hin.“

Also hab ich gedacht: Ich bin falsch. Ich bin zu viel. Ich bin das Problem.

Weil meine Wut nicht einfach Wut ist, sondern eine Explosion, die Stunden nachbebt. Weil meine Traurigkeit nicht leise vorbeizieht, sondern mich tagelang verschluckt. Weil meine Freude so intensiv sein kann, dass ich fast weinen muss, weil der Moment zu schön ist, um ihn auszuhalten.

Gefühle verjähren nicht.

Und wenn selbst Freude manchmal kaum auszuhalten ist – was bitte soll ich dann mit dem ganzen Rest anfangen?

Ich habe versucht, das zu lösen wie alles, was mir zu viel wird: Ich habe Ordnung gemacht. Nicht außen, sondern innen. Ich habe meine Gefühle abgeheftet. Nicht verarbeitet – nur einsortiert.

Wut? In den Aktenschrank „unangemessen“.

Traurigkeit? Unter „nicht jetzt“.

Freude? Ganz unten, im Flachregister „nicht so laut“.

Ich dachte, das sei Erwachsensein: stillhalten, lächeln, durchziehen.

Emotionale Bürokratie eben.

Aber Gefühle sind keine Steuerunterlagen. Man kann sie nicht einfach ablegen und hoffen, dass sie irgendwann verjähren. Tun sie nämlich nicht. Meistens tauchen sie genau dann wieder auf, wenn du mit allem rechnest – nur nicht mit dir selbst. Wie ein übervoller Schrank, den man hastig schließt – in der Hoffnung, dass alles drin bleibt. Und irgendwann geht die Tür auf. Von selbst. Und alles fällt raus.

Auf dich. Mitten im Tag.

Emotionally unavailable.

Und manchmal ist es dann einfach zu viel. Zu laut. Zu nah. Zu durchdringend. Und dann schalte ich ab. Nicht den Laptop. Sondern mich. Emotionale Not-Aus-Taste. Zack. Ruhe. Keine Wut, keine Freude, kein Drama. Einfach: nichts. Als hätte jemand das ganze Gefühlsspektrum auf „Graustufen“ gestellt. Das fühlt sich erstmal angenehm an – wie eine Pause in der Reizüberflutung.

Aber nach einer Weile merkt man: Die Welt ohne Gefühle ist nicht ruhig. Sie ist leer. Kein Flimmern mehr im Bauch, kein Ziehen im Herz, kein Lächeln, das von innen kommt. Man funktioniert, ja. Man nickt, lacht, antwortet.

Aber innen drin? Nur Standbild.

Ich nenne das den Stumpf-Modus. Klar, man übersteht damit den Tag. Keine Tränen, keine Ausbrüche, keine peinlichen Gefühlsmomente.

Stabil. Funktionstüchtig. Unauffällig.

Fast schon praktisch – wenn man nicht vorhätte, zu leben.

Denn wenn man die schlimmen Gefühle ausschließt, bleiben auch die guten draußen. Liebe, Ausgelassenheit, Leichtigkeit – sie stehen dann draußen vor der Tür und frieren.

It’s not a bug - it’s a feature

Ich dachte lange, ich bräuchte einfach nur die richtige Fernbedienung für meine Gefühle. Wut: Mute. Traurigkeit: Skip. Angst: Flugmodus. Freude? Kurz laut, dann sofort wieder runterdrehen – man will ja niemanden erschrecken.

Ich hab das eine Weile ganz gut durchgezogen. Gefühle sortiert, stummgeschaltet, schön sauber wegmoderiert. Emotionales Understatement mit System.

Hat nur leider nichts gebracht. Außer innerlichem Kabelsalat und dem diffusen Gefühl, dass ich mich selbst dauernd unterbreche.

Ich kann inzwischen besser mit meinen Gefühlen umgehen. Nicht immer souverän – aber meistens bewusst. Weil ich verstanden habe: Alle Gefühle sind richtig. Die angenehmen, die sperrigen, die peinlichen, die kostbaren.

Man kann Angst haben, ohne gleich im Bunker einzuziehen. Man darf wütend sein, ohne direkt einen Flammenwerfer zu bestellen. Aber wenn Freude auftaucht – dann sollte man ihr einen Platz in der ersten Reihe freihalten. Mit Konfetti. Und Musik. Ganz egal, wer zuguckt.

Und vielleicht bin ich ja gar nicht zu viel. Vielleicht sind die anderen einfach zu wenig.

P.S. Heute Morgen bin ich über meinen Perfektionismus gestolpert. Ist zwar kein Gefühl, fühlt sich aber exakt so an – klebrig, laut und überzeugt, dass dieser Beitrag noch nicht ganz rund ist. Ich hab kurz überlegt, alles nochmal umzuschreiben. Dann bin ich einfach liegen geblieben. Jetzt ist der Beitrag nicht perfekt. Aber dafür mit Gefühl.

📬 Und du? Fühlst du noch – oder sortierst du schon alphabetisch nach „geht grad nicht“? Schreib mir gern, bevor deine inneren Mitbewohner eine spontane Vollversammlung einberufen. Ich melde mich, sobald ich rausgefunden hab, ob das gerade Wut, Hunger oder einfach nur Dienstag ist.

🧩 Dieser Text ist Teil meiner Blogserie „Was ich kann“. In der nächsten Folge: Ich und das Anderssein. Zwischen Normen, Nischen und der leisen Ahnung, dass Durchschnitt ohnehin überbewertet ist.

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Ich bin nicht komisch. Ich bin nur limitiert kompatibel.

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So gesund war ich noch nie krank