Grübelkeit

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„Mir ist ganz schlecht. Ich glaube, ich habe Grübelkeit.“

Das habe ich irgendwann mal beiläufig gelesen – und war wie vom Donner gerührt. Grübelkeit. Kein echtes Wort, aber ein echtes Gefühl. Es beschreibt mit verstörender Präzision, was passiert, wenn Gedanken so lange im Kreis fahren, bis einem davon schlecht wird.

Es beginnt meistens harmlos. Ich liege im Bett, das Licht ist aus, mein Körper bereit für Tiefschlaf, mein Geist dagegen nicht. Der hat plötzlich Fragen. Wichtigkeiten. Ein inneres Flipchart. Und natürlich keine Pause-Taste.

„Habe ich die Herdplatte ausgemacht?“
„Was darf ich morgen auf keinen Fall vergessen?“
„Hätte ich 2006 bei dieser einen Entscheidung eigentlich...“

Willkommen bei der Grübelkeit. Kein offizieller ICD-Code, aber wenn du’s kennst, weißt du: Das ist kein Denkprozess. Das ist eine mentale Waschmaschine im Schleudergang. Und irgendjemand hat einen Backstein mit reingeworfen.

Kreisverkehr ohne Ausfahrt

Grübelkeit unterscheidet sich vom Nachdenken durch ihre Erfolglosigkeit. Sie löst nichts, verbessert nichts, bringt nichts – außer Augenringe und eine gereizte Großhirnrinde.

Trotzdem ist sie hartnäckig. Sie behauptet, sie wolle nur helfen: "Ich will das nochmal kurz durchgehen."
Doch „kurz“ wird zu „gründlich“, „gründlich“ zu „grüblerisch“ und ehe man sich versieht, hat man dem inneren Kontrollfreak einen Latte Macchiato serviert und gesagt: „Mach’s dir ruhig bequem.“

Grübelkeit liebt Konjunktive. Sie lädt „hätte“, „könnte“ und „sollte“ zu einem internen Symposium ein, bei dem niemand pünktlich kommt, aber alle sehr laut sind. Und ich sitze da, auf dem letzten freien Stuhl, zwischen Zukunftsangst und Altlast – und darf das Protokoll führen.

Es ist, als würde ich mitten in der Nacht eine PowerPoint-Präsentation vorbereiten für ein Meeting, das es nie geben wird – und bin trotzdem überzeugt davon, dass es um alles geht. Mein Hirn produziert Folien, Diagramme, Alarm – aber keine Lösung.

Und irgendwann dämmert es mir:
Vielleicht war das gar kein echtes Problem.
Vielleicht war’s einfach nur ein Gefühl.

Aber das macht es nicht kleiner. Im Gegenteil. Gefühle können so riesig sein wie ein Möbelhaus: man will nur kurz rein, steht dann aber plötzlich vor einer Couch namens Selbstzweifel, die man nie kaufen wollte, aber jetzt trotzdem mitnimmt. Und manchmal setzen sie sich eine Brille auf und tun so, als wären sie Gedanken. Klug, analytisch, wichtig. Dabei sind sie oft einfach nur traurig. Oder überfordert. Oder einsam. Oder alles davon.

Gedanken mit Eskalationsgarantie

Ich glaube, Grübelkeit ist der Versuch meines Gehirns, mein Leben auf versteckte Mängel zu überprüfen. Und zwar nicht nur abends im Bett – sondern immer dann, wenn es eigentlich still werden könnte. Beim Zähneputzen. Unter der Dusche. Beim Blick aus dem Fenster mit Tee in der Hand.

Dann marschieren meine gedanklichen Sicherheitsbeauftragten los – mit Stirnlampe, Klemmbrett und der festen Überzeugung, dass ich irgendwo ein Detail übersehen habe, das in fünf Jahren mein gesamtes Dasein zum Einsturz bringt.

Und das Absurde? Sie meinen es gut. Sie glauben, sie seien Retter in der Not, Lebensberater mit Überstundenbereitschaft. In Wahrheit reißen sie Wände auf, in denen gar keine Risse sind.

Und was hilft?

Gute Frage. Ich habe keine endgültige Antwort. Nur kleine Fluchten.

Zum Beispiel aufschreiben, was im Kopf Karussell fährt – damit es wenigstens Fahrkarten lösen muss.

Manchmal hilft auch nur, sich vorzustellen, wie all die Gedanken im Pyjama eine Polonäse machen, einmal quer durchs Gehirn – und dann höflich das Licht ausknipsen.

Und an schlechten Tagen? Dann beschäftige ich mein Hirn mit irgendwas anderem, bevor es wieder auf dumme Gedanken kommt: Ich übertöne meine Grübelkeit. Mit Stimmen. Mit Podcasts. Mit Menschen, die mir erklären, wie ich durch Intervallfasten, Atemtechniken und minimalistisches Wohnen endlich ein besserer Mensch werden könnte – obwohl ich gerade auf dem Sofa liege und nichts davon tue. Völlig egal. Hauptsache mein Gehirn ist anderweitig ausgelastet.

Es ist ein bisschen so, als würde ich mein inneres Gedankenradio mit einem anderen Sender überlagern. Statt Grübel-FM läuft dann „Clean Eating trifft Morgenroutine“ – mit sanfter Stimme und optimierten Atempausen. Und während mein Gehirn noch damit beschäftigt ist, ein minimalistisches Homegym im Kopf zu planen, verpasst es einfach den Einstieg in die nächste Grübelschleife.

Ist das eine tiefgreifende Lösung? Wahrscheinlich nicht. Aber manchmal ist es genau das, was ich brauche: akustischen Hausarrest für Gedanken, die sich nicht benehmen können.

💬 Und du?

War dir auch schon mal richtig schlecht vor lauter Grübelkeit? So schwindlig im Kopf, obwohl du nur dalagst und dachtest?

🧩 Dieser Text ist Teil meiner Blogserie Worte, die wirken“. Was als Nächstes kommt? Vielleicht irgendwas, das plötzlich Sinn ergibt, obwohl es vorher nur rumlag.

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Heute nichts erlebt. Auch schön.