Herz über Hügel.

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Früher dachte ich, Menschen auf Fahrrädern sind entweder sehr arm oder sehr verloren. Vor allem, wenn sie in hautengen Funktionsklamotten bei Nieselregen einen Berg hochradelten, während ich gemütlich im Auto vorbeijuckelte – Heizung auf drei, Sitzheizung auf fünf. Ich sah sie und hatte Mitleid. Damals war für mich klar: Wer sich freiwillig abstrampelt, hat den Führerschein verloren oder den Verstand – oder beides.

Nie im Leben wäre ich auf die Idee gekommen, dass diese Menschen das freiwillig machen. Dass sie vielleicht sogar ein Auto haben – oder zwei! – und sich trotzdem in Lycra wickeln, um mit schmerzverzerrtem Gesicht irgendwo hochzustrampeln. Ohne Zwang. Ohne Fluchtgrund. Nur so, aus Spaß.

Ich war davon überzeugt, dass Bewegung entweder ein notwendiges Übel ist oder eine Strafe. Sportlehrer waren für mich keine Pädagogen, sondern Fitnessmissionare im Staatsdienst – mit Pfeife statt Bibel. Und Natur war für mich etwas, das man maximal durch’s Fenster betrachtet – bei Kälte mit Heißgetränk und Wollsocken, bei Hitze mit geschlossenen Rollläden und einem stillen Groll gegen die Sonne. Schon Spazierengehen war mir ein Rätsel. Ich hatte ein ausgeprägtes Gespür für Energieeffizienz: Warum gehen, wenn man auch liegen kann?

Keine Lust. Kein Problem.

Ich weiß nicht genau, wann es gekippt ist. Vielleicht gab es keinen Kipppunkt, sondern eher ein allmähliches Einsickern. Keinen festen Entschluss, kein motivierendes YouTube-Video. Keinen Neujahrsvorsatz mit Sporthose und großem Vorher-nachher-Versprechen. Es war eher so ein inneres Na gut. Mal kurz raus. Wird schon nicht wehtun. Und dann stand ich draußen – allein, leicht genervt, aber irgendwie neugierig – und dachte plötzlich: Hm. Komisch. Das fühlt sich gar nicht an wie Zeitverschwendung. Vielleicht sogar ein bisschen … gut.

Heute lasse ich auch mein Auto öfter stehen. Nicht, weil es kaputt ist. Sondern weil ich lieber laufe. Oder radle. Ich suche bewusst nicht den nächstgelegenen Parkplatz, wenn ich doch mal mit dem Auto unterwegs bin, sondern den mit maximaler Schrittausbeute. Mein früheres Ich schüttelt wahrscheinlich noch immer den Kopf über mich – von der Couch aus, mit Chips in der einen und Rechtfertigungen in der anderen Hand.

Aber: Ich bewege mich heute nicht zufällig so viel. Nur weil mein Körper inzwischen kribbelt, wenn ich mich zu lange nicht rühre, heißt das noch lange nicht, dass Bewegung von allein passiert. Ich bin kein glücklicher Wirbelwind mit spontanem Bewegungsdrang – ich bin ein Mensch mit Kalender. Und dieser Kalender enthält fixe Sporttermine. Keine vagen Absichten, sondern echte Einträge, wie Zahnarzt oder Elternabend. Ich mache das, weil ich weiß: Wenn ich’s nicht einplane, kommt mir das Leben dazwischen. Immer.

Und vor allem: Ich warte nicht mehr auf Motivation. Die ist wie eine Diva – glamourös in der Theorie, unzuverlässig in der Praxis. Sie taucht nie auf, wenn man sie braucht, und macht sich meistens erst bemerkbar, wenn längst alles läuft.

Manchmal setzt sie beim dritten Kilometer ein. Oder beim zweiten Armzug. Vorher? Funkstille.

Aber ich mache es trotzdem. Nicht, weil ich motiviert bin, sondern weil ich verstanden habe, dass Motivation nie der Anfang ist – sondern immer hinterherhinkt.

Wer auf sie wartet, steht da wie jemand, der am Flughafen auf ein Schiff wartet. Nett gemeint, aber komplett am Thema vorbei.

Der Wecker bleibt mein Endgegner

Genauso rätselhaft fand ich früher übrigens diese Menschen, die freiwillig früh aufstehen. Also nicht wegen Job, Kind oder Lärm vom Nachbarn, sondern einfach so – aus Überzeugung. In meiner Vorstellung hatten sie entweder eine Wette verloren – oder waren Influencer im Selbstexperiment.

Meine eigenen Morgende sahen da eher aus wie eine Mischung aus Zeitschleife und Widerstandstraining. Wecker. Snooze. Noch mal Snooze. Verhandlungsphase mit mir selbst. Dann Aufstehversuch Nummer eins – gescheitert. Nummer zwei – minimal erfolgreich. Und irgendwann stand ich auf, nicht weil ich wollte, sondern weil das schlechte Gewissen lauter war als mein Kissen.

Zwischen Zahnbürste und Kaffeemaschine war ich geistig nicht anwesend. Ich war ein Körper im Standby-Modus – ohne Updates, aber mit Krümeln auf dem Shirt. Die Vorstellung, in diesem Zustand freiwillig joggen zu gehen oder gar den Sonnenaufgang zu genießen, war ungefähr so naheliegend wie ein Picknick im Schneesturm.

Heute hasse ich das Aufstehen immer noch. Unverändert. Unbelehrbar. Es bleibt ein Akt der Zumutung – ganz egal, ob um sechs, um acht oder um zehn.

Und es gelingt mir auch nicht immer. Manchmal gewinne ich gegen den Wecker. Oft gewinnt das Bett. Und gelegentlich gewinnt der Tag einfach ohne mich.

Was ich aber liebe: früh auf zu sein. Klingt widersprüchlich, ist es auch. Aber es gibt kaum etwas Schöneres, als schon draußen zu sein, während der Rest der Welt den Tag noch ignoriert.

Wenn ich dann – mit halbgeschlossenen Augen und mental noch im Pyjama – durch die Stille stapfe und die Luft nach Anfang riecht, spüre ich etwas, das mir in Selbsthilfebüchern immer versprochen, aber nie geliefert wurde: Frieden. Oder zumindest dieses stille Triumphgefühl, schon da zu sein, bevor der Tag anfängt, mit Forderungen um sich zu werfen.

Draußen zu Hause

Wenn ich im späten Frühling früh morgens im Freibad ins Wasser gleite – und das Wasser wärmer ist als die Luft – dann hüpft mein Herz. Nicht dramatisch, sondern still und gleichmäßig, wie meine Bewegungen. Ich bin zu langsam für die abgetrennten Sportbahnen, aber dann doch wieder zu schnell für das ruhige Rentnerschwimmen im restlichen Becken. Also ziehe ich meine Bahnen irgendwo dazwischen - unauffällig, eher planschend als schwimmend - kraulen kann ich höchstens meine Katzen – aber zufrieden.

Während mein Körper langsam in den Tag findet, merke ich: Ich bin wach. Weil die Welt noch nicht zu laut ist. Und weil ich im Wasser manchmal klarer denke als an Land.

Und wenn ich mich aufs Rad schwinge, einen Berg erklimme (mit Fluchen, natürlich) und dabei die Welt unter mir kleiner wird, dann hüpft mein Herz. Nicht vor Leichtigkeit, sondern gerade weil es schwer ist. Weil ich atme, keuche, weiterfahre – und irgendwann plötzlich das Gefühl habe, alles ist gut, solange ich weitertrete.

Wenn ich allein durch den Wald laufe, mit nassen Haaren und müden Beinen, dann hüpft mein Herz. Es ist dieses Bei-sich-Sein, das ich früher nie verstanden habe. Nicht nur draußen zu sein, sondern draußen zu Hause. Und es gibt kaum etwas Beruhigenderes, als zu wissen, dass man sich jederzeit wieder selbst spüren kann – mit nichts als einem Weg unter den Füßen.

Dann hüpft mein Herz

Ich hätte das nie für möglich gehalten. Dass ausgerechnet ich mal freiwillig früh aufstehe, um zu schwimmen, zu radeln, zu gehen. Dass ich die Stille suchen würde, statt sie mit Serien zu übertönen. Dass ich Bewegung nicht mehr als Zwang empfinde, sondern als Geschenk. Ein tägliches Du darfst, kein Du musst.

Und wenn du mal mit dem Auto einen steilen Berg hochfährst, der Regen gegen die Windschutzscheibe peitscht und du eine Radfahrerin überholst – enges Trikot, klatschnass, fluchend, aber irgendwie beseelt – dann könnte ich das sein.

Eine Frau im Besitz eines Führerscheins, mit funktionierendem Auto. Und Verstand.

Die sich freiwillig den Berg hochquält.

Weil ihr Herz hüpft, wenn sie oben ist.

P.S.: Ich wollte heute Morgen mit dem Fahrrad einen Berg bezwingen, aber es hat nicht geregnet und aus dem Bett gekommen bin ich auch nicht.

💬 Und du?

Wann hüpft dein Herz – obwohl eigentlich alles dagegen spricht? Erzähl’s mir, oder auch nicht. Wie du willst.

🧩 Dieser Beitrag ist Teil meiner Serie “was mein Herz hüpfen lässt”. Nächstes Mal wird’s einsam. Also thematisch. Es geht ums Alleinsein – und warum mein Herz dabei hüpft. Nicht immer, aber überraschend oft. Zum Beispiel, wenn keiner stört, niemand redet – und ich trotzdem ständig unterbrochen werde. Von mir selbst.

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Alleine. Und zwar gern.

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