Default Parent
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Es gibt in fast jeder Familie eine Person, die ganz automatisch alles im Blick hat. Nicht, weil sie darum gebeten wurde. Sondern, weil sonst niemand den Überblick hat.
Diese Person nennt man „Default Parent“.
Also die Standardeinstellung für alles, was mit Kind, Haustieren, Alltag, Erinnerungen, Formularen, Milchvorräten und verlorenen Spielsachen zu tun hat.
In meiner Familie bin ich dieser Mensch.
Nicht, weil ich es wollte.
Sondern, weil ich es irgendwann einfach war.
Die unsichtbare Projektleitung des Familienbetriebs
Default Parents sind die unbezahlten Projektmanager:innen des Alltags. Sie wissen, dass das Kuscheltier mit dem abgerissenen Ohr nicht ersetzt werden kann, dass die Weltraum-Brotdose die einzige akzeptierte Option ist und dass nächste Woche Laternenlauf ist – und die Batterie der Lampe natürlich leer.
Sie wissen, wann die nächste Zahnarztuntersuchung ansteht, welche Kleider- und Schuhgröße das Kind aktuell hat, und dass das Lieblingsshirt gerade im Wäschekorb liegt (zweiter von oben).
Und niemand fragt sich, ob es fair ist, die Verantwortung für das Wissen, Planen und Erinnern einfach auszulagern – an die Person, die ohnehin schon alles im Kopf hat.
Weil es einfach selbstverständlich ist.
Das Echo des Alltags
Der Default Parent ist nicht nur der Kopf der Operation, sondern auch die Hotline.
Wenn etwas gesucht wird: „Mama?“
Wenn jemand Hunger hat: „Mama?“
Wenn jemand Langeweile hat, Streit, ein Pflaster braucht oder eine spontane Sinnkrise: „Mama?“
Manchmal denke ich, mein Name bedeutet im Familienlexikon einfach „Zuständig“.
Und selbst wenn der andere Elternteil direkt daneben steht, geht der Blick – wie ferngesteuert – zu mir.
Nicht aus bösem Willen.
Sondern, weil das System so trainiert wurde.
Das Problem ist nur:
Ich bin kein 24-Stunden-Helpdesk mit unbegrenztem Datenvolumen.
Und selbst wenn ich es wäre, wäre mein Akku irgendwann leer.
„Du hättest ja was sagen können“
Einer der Lieblingssätze von Nicht-Default-Parents.
Meisten gesagt in Momenten, in denen der Stress längst übergekocht ist – und der Default Parent nicht mehr freundlich klingt, sondern nur noch leicht hysterisch lacht.
Das Ironische daran: Default-Parents sagen ja was.
Andauernd sogar.
Nur hört’s kaum jemand – oder es verhallt zwischen zwei halbherzigen „Ja, mach ich später“.
Und wenn dann tatsächlich mal eine Aufgabe übernommen wird, hält der Effekt meist so lange wie ein guter Vorsatz im Januar.
Bis alles wieder auf Anfang steht. Auf „Default“.
Und während der Rest der Familie sich auf die sichtbaren Aufgaben konzentriert („Ich hab doch die Spülmaschine ausgeräumt!“), jongliere ich im Hintergrund mit To-do-Listen, Zeitfenstern und mentalen Notizzetteln in der Größe von DIN A0.
Die Gleichung ohne Lösung
Die romantische Idee von Gleichberechtigung im Familienalltag klingt wunderbar auf Papier.
In der Praxis heißt sie oft: Beide arbeiten, beide lieben die Kinder – aber nur eine Person hat den mentalen Arbeitsspeicher, der nie runterfährt.
Und so entsteht ein unsichtbarer Systemfehler:
Der Default Parent läuft im Hintergrund. Immer.
Die Stille, wenn niemand fragt
Manchmal wünsche ich mir, jemand würde fragen, wie es sich anfühlt, immer zuständig zu sein.
Nicht im Sinne von: „Wie schaffst du das nur?“
Sondern im Sinne von: „Was brauchst du, damit du es nicht immer schaffen musst?“
Denn das ist das eigentliche Problem:
Default Parents funktionieren zu gut.
Sie fangen alles auf – und fallen irgendwann durch ihr eigenes Netz.
Und jetzt?
Ich habe keine Patentlösung.
Aber ich habe angefangen, meine eigenen Prozesse zu hinterfragen.
Muss ich wirklich alles wissen?
Oder darf ich auch mal „Keine Ahnung“ sagen – und die Verantwortung übergeben, ohne Schuldgefühle?
Und trotzdem gibt es diesen anderen Gedanken, der mich immer wieder tröstet:
Dass ich durch all diese Zuständigkeit auch ganz nah dran bin.
Ich kenne jeden Lieblingswitz, jedes Trotzgesicht, jede winzige Veränderung in der Stimme meines Kindes, wenn etwas nicht stimmt.
Ich bin Zeugin des Alltags, nicht nur Teilnehmerin.
Und während das manchmal erdrückend ist, ist es auch ein Geschenk.
Nicht-Default-Parents verpassen viel davon – nicht aus Gleichgültigkeit, sondern weil sie schlicht weniger nah dran sind.
Weniger gerufen werden, weniger gebraucht werden, weniger wissen.
Das ist in Momenten akuter Überforderung kein Trost.
Aber an den stillen Abenden, wenn endlich Ruhe ist, manchmal doch.
💬 Und du?
Bist du in deiner Familie der Default Parent – oder der, der glaubt, keinen zu brauchen?