Ich und die Zeit: Ein Drama in vielen Akten

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Zeit? Nein danke, ich glaube lieber an Einhörner

Ich hatte schon immer ein schwieriges Verhältnis zur Zeit. Es ist, als hätte jemand vergessen, mir das passende Betriebssystem dafür zu installieren. Das Konzept von „Zeit“ – ich glaube einfach nicht daran. Schon als Kind hatte ich das Gefühl, mein Leben ist zu kurz für all die Dinge, die ich tun, entdecken oder einfach nur in Ruhe erleben will. Stattdessen standen Hausaufgaben, Pflichten und Termine auf dem Programm. Der Spaß kam zu kurz. Immer.

Und obwohl ich als Kind immerhin meistens pünktlich war, änderte sich das schlagartig mit der Pubertät. Ich kam noch immer zuverlässig zur Schule – pünktlich zu spät. Mein innerer Teenager fand das System Schule nicht nur sinnlos, sondern wollte das auch deutlich machen. Fünf Minuten zu spät als Statement. Ein kleiner, rebellischer Akt im grauen Schulalltag.

Wenn Zeiteinteilung zur Glaubensfrage wird

Mit den Jahren aber wurde klar: Mein Problem war nicht nur das Schulsystem – es war die Zeit an sich. Genauer gesagt: Mein verzweifelter Versuch, sie zu kontrollieren.

Ich bin ein Kontrollfreak. Da ist nichts schönzureden. In vielen Lebensbereichen habe ich das heute ganz gut im Griff – in anderen Bereichen hat die Kontrolle immer noch mich im Griff. Und Zeit? Die entgleitet mir regelmäßig wie ein Stück Seife unter der Dusche.

Natürlich weiß ich, dass Zeit ähnlich funktioniert wie das Wetter: Man kann sie nicht beeinflussen – nur darauf reagieren. Ist es draußen nass und kalt, ziehe ich eine warme Jacke und Gummistiefel an. Ist es heiß, eben Shorts und Sonnencreme. Easy. Kein Problem.

Mit der Zeit müsste es eigentlich genauso laufen. Sie vergeht eben. Ob ich dabei träume, renne oder auf dem Sofa sitze. Ich kann mir meinen Umgang mit ihr angenehmer machen, aber ich kann sie nicht festhalten.

35-Stunden-Tage wären ein guter Anfang

Und genau das ist das Problem: Ich will mehr davon. Viel mehr. Meine Tage bräuchten mindestens 35 Stunden, damit ich auch nur ansatzweise alles unterbekomme, was in meinem Kopf los ist. Da ist zu viel drin für 24-Stunden-Tage. Ich will alles machen, am besten gleichzeitig. Und die Zeit? Die soll sich bitte einfach dehnen – wie ein guter Hefeteig.

Also beschwindle ich mich selbst. Ich fange fünfzehn Minuten vor einem Termin noch ein kleines Projekt an. Eins, das „nur zehn Minuten dauert“. Theoretisch. Praktisch dauert es natürlich mindestens 20 Minuten, weil ich ja nicht einfach mittendrin aufhören kann, wenn ich gerade im Flow bin. Und weil ich immerhin fünf Minuten Puffer eingebaut habe, kann ich auch noch schnell…

Und zack – bin ich zu spät. Wieder einmal.

Verspätung mit Ansage

Ich renne los, gehetzt, genervt. Die Uhr zeigt längst, dass mein Zeitplan nicht aufgegangen ist. Und als Krönung: Stau. Perfekt. Jetzt kann ich wenigstens eine halbwegs glaubhafte Entschuldigung liefern. Dass ich eigentlich schon spät dran war, bevor ich das Haus überhaupt verlassen habe? Geschenkt.

Zeit macht mich wütend. Sie ist gnadenlos. Wenn ich etwas tue, das ich liebe, möchte ich sie anhalten. Ich will sie einfrieren, bis ich fertig bin. Erst dann darf sie weiterlaufen. Aber sie tut es einfach nicht. Sie läuft weiter. Immer. Und sie interessiert sich einen Dreck dafür, ob ich gerade besonders inspiriert bin oder gerade einfach mal ‘ne Pause brauche.

Pufferzeit ist kein Raum für neue Projekte – hab ich gehört

Also bleibt mir nichts anderes übrig, als zu lernen, mich an sie anzupassen. Wie beim Wetter. Keine Zehn-Minuten-Vor-Abfahrt-Aktionen mehr. Pufferzeiten mindestens verdoppeln, wenn nicht verdreifachen. Und: lernen, Leerlauf auszuhalten. Der ist für mich fast schlimmer als zu spät kommen. Ich muss etwas zu tun haben. Immer.

Aber ich arbeite daran. Ich versuche, realistisch einzuschätzen, wie lange Dinge wirklich dauern. Ich rechne zu meiner ersten Einschätzung einfach die doppelte Zeit drauf. Und siehe da – plötzlich klappt’s. Ich komme meistens pünktlich. Manchmal sogar zu früh. Und ich glaube, die Leute, die ich dann treffe, wissen gar nicht, wie viel Kraft mich das kostet. Dieses „pünktlich sein“.

Ich bin nicht unpünktlich – ich bin nur ambitioniert unrealistisch

Denn ich habe verstanden: Ich bin nicht einfach „unpünktlich“. Genauso wenig wie ich einfach „unordentlich“ bin. Ich habe nur ein anderes Verhältnis zur Zeit. Es kostet mich Disziplin, Planung und eine gehörige Portion Selbstverarsche-Detox, um halbwegs realistisch in der Zeit zu leben. Um nicht mehr zu glauben, ich könnte Zwei-Stunden-Tätigkeiten in 15 Minuten quetschen, wenn ich mich nur genug beeile.

Wie ich heute plane, wie ich meine Tage strukturiere und welche Tricks mir helfen, nicht wieder in alte Zeitfallen zu tappen – das erzähle ich dir ein andermal.

P.S.: Ich dachte, diesen Blogbeitrag zu schreiben dauert höchstens eine Viertelstunde - rate wie lange ich tatsächlich gebraucht habe…

📬 Kennst du das Gefühl, dass die Zeit dich ständig austrickst? Oder du sie? Dann schreib mir – per Kommentar oder E-Mail. Ich freu mich, wenn wir gemeinsam unsere Zeitillusionen entlarven.

🧩 Dieser Text ist Teil meiner Blogserie „Was ich kann“. In der nächsten Folge geht’s ums Geld – und warum meine Beziehung dazu auch nicht einfach ist.

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