Ordnung ist das halbe Leben

🕓 Lesedauer: ca. 6 Minuten

Und ich lebe in der anderen Hälfte.

Mein Verhältnis zur Ordnung war schon immer ein bisschen kompliziert.
Ich brauche sie. Dringend.
Weil mein Kopf zu jeder Tages- und Nachtzeit ein chaotisches Karussell aus Gedanken, Ideen und To-do-Listen ist, muss um mich herum möglichst alles ruhig, klar und übersichtlich sein.
Sonst fliegt mir irgendwann die Sicherung raus.

Das Problem: Ich bin von Natur aus nicht ordentlich. Ich bin eher … struktursuchend. Mit Hang zur Überforderung.
Ordnung beruhigt mich.
Aber Ordnung machen?
Das stresst mich manchmal mehr, als das Chaos selbst.

Aufräumen wie ich früher dachte, dass man aufräumt

Wenn ich als Kind mein Zimmer aufräumen sollte, war ich motiviert.
Ich wollte das gut machen.
Leider hatte ich eine sehr eigene Vorstellung davon, was „gut“ bedeutet.

Statt einfach das Spielzeug vom Boden zu nehmen und es in die dafür vorgesehene Kiste zu werfen – was vermutlich der Plan meiner Eltern war – begann ich im Kleinen. Im Allerkleinsten.

Ich hob etwas vom Boden auf, um es in eine Schublade zu legen.
Dann sah ich die Schublade an.
Dann die Unordnung in der Schublade.
Dann kippte ich die Schublade aus.
Um sie ordentlich einräumen zu können.

Beim Auskippen stellte ich fest, dass in der Schublade Dinge waren, die da gar nicht hingehörten.
Also öffnete ich die nächste Schublade. Auch nicht besser.
Also auch ausleeren.
Und so weiter.

Irgendwann lag der komplette Inhalt meines Zimmers auf dem Boden.
Aber ich fühlte mich gut! Ich war ja mitten im Aufräumen. Ich hatte einen Plan. Ich hatte Struktur. Ich hatte … okay, nein, ich hatte einen Haufen.

Wenn ich dann kurz das Zimmer verließ und wieder hereinkam, überforderte mich das Ausmaß meiner eigenen Ambition jedes einzelne Mal.
Ich sah nur noch Dinge. Überall.
Und ich wusste weder, womit ich anfangen sollte, noch, wie das alles jemals wieder weggehen sollte.
Also schloss ich die Tür.
Und ging woanders spielen.

Mein Ordnungsideal? Eine Ferienwohnung

Bis heute ist das mein Sehnsuchtsbild:
Eine frisch geputzte Ferienwohnung.
Nichts liegt rum. Alles hat seinen Platz. Glatte Oberflächen. Platz zum Denken.

Für mich ist das: Ordnung in Perfektion.

Und da ist sie, die Wurzel allen Übels: Perfektion.

Perfektion – oder: Warum ich manchmal lieber gar nicht erst anfange

Ich strebe nach Perfektion. Nicht bewusst, aber zuverlässig.
In meinem Kopf gibt es oft nur zwei Möglichkeiten: Ganz oder gar nicht.
Ein bisschen Ordnung reicht mir nicht. Wenn ich schon aufräume, dann richtig. Mit System. Mit Kisten. Mit Etiketten.
Am besten mit einem Vorher-Nachher-Foto, das Instagram-geeignet wäre, wenn ich nicht heimlich wieder Chaos in der Ecke gelagert hätte.

Das Problem ist: Diese Haltung ist nicht sehr alltagstauglich.
Wenn ich nicht aufräumen kann, wie ich es mir vorstelle – perfekt –, dann fange ich manchmal gar nicht erst an.

Ich habe lange gedacht, das sei Faulheit. Oder Inkonsequenz.
Heute weiß ich: Das ist Perfektionismus mit eingebauter Handbremse.

Ich bin nicht faul. Ich bin ambitioniert überfordert.

Rückblickend erkenne ich: Mein kindliches Aufräumdrama war kein Scheitern – es war nur ein zu großer Anspruch an ein zu kleines Ich.

Ich wollte alles auf einmal richtig machen.
Und weil das nicht ging, blieb am Ende alles liegen.
Daran hat sich – ehrlich gesagt – nicht so wahnsinnig viel geändert. Nur, dass ich heute nicht mehr aus dem Zimmer flüchte, sondern lieber Podcasts über Ordnung höre, während ich die Unordnung ignoriere.

Gut genug ist (meistens) gut genug

Inzwischen versuche ich es mit dem Gedanken:

Gut genug ist gut genug.

Ich muss nicht alles perfekt machen. Es reicht, wenn ich anfange.
Wenn ich eine Schublade schließe, obwohl noch drei andere offenstehen – ist das vielleicht ein Zeichen von Reife. Oder Müdigkeit. Beides okay.

Ich bin nicht ordentlich im klassischen Sinn. Aber ich bin ordnungssensibel.
Ich brauche Klarheit. Und die entsteht nicht durch perfekte Schubladen, sondern durch Systeme, die mich nicht überfordern – auch wenn’s regnet und die Spülmaschine piept.

Teil 2 einer Serie: Was ich kann (Spoiler: Ordnung – aber mit Ecken und Kanten)

Früher dachte ich, Perfektion beim Aufräumen heißt: jede Schublade muss glänzen, und zwar von innen.
Heute weiß ich: Wenn ich es schaffe, das Chaos nicht zu vergrößern, ist das schon fast eine Meisterleistung.

Früher dachte ich, ich bin halt einfach nicht ordentlich.
Heute weiß ich: Ich habe nur versucht, mich an einem Maßstab zu messen, den vermutlich nicht mal Marie Kondo durchhält, wenn sie krank und müde ist.

Und obwohl mein System bis heute nicht katalogisiert, farblich sortiert oder Pinterest-kompatibel ist, klappt es inzwischen ganz gut mit mir und der Ordnung.
Ich habe Strategien, ich habe Routinen – und ich habe akzeptiert, dass eine halb geschlossene Schublade manchmal auch ein Erfolg ist.

Wie das geht?
Erzähle ich dir gern. Vielleicht. Wenn ich vorher noch die eine Kiste im Flur weggeräumt habe.

P.S.
Falls du dich fragst, wie gut ich meinen Perfektionismus inzwischen im Griff habe:
Dieser Beitrag war eigentlich schon nach der ersten Version ziemlich gut.
Ich habe ihn trotzdem noch ungefähr hundertmal überarbeitet. Nur so. Zur Sicherheit.

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Ich und die Zeit: Ein Drama in vielen Akten

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Chaos, Kopfkino und kreative Krisen: Willkommen in meinem Gehirn