Komfortkrise
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Früher dachte ich, Mut sei etwas für andere.
Für Menschen, die Fallschirm springen, Start-ups gründen oder bei Vorstellungsgesprächen sagen: „Meine größte Schwäche ist Perfektionismus.“
Ich dagegen? Ich bin die, die drei Tage lang überlegt, ob sie eine neue Funktion in der Software anklicken soll, weil sie befürchtet, dadurch alles kaputtzumachen.
Und trotzdem ertappe ich mich in letzter Zeit immer öfter dabei, wie ich Dinge tue, vor denen ich eigentlich Angst habe.
Manche davon klein und unspektakulär – andere mit deutlichem Schweißpotenzial.
Und jedes Mal, wenn ich es geschafft habe, etwas zu tun, das mich vorher nervös gemacht hat, passiert das Gleiche:
Mein Herz schlägt ein bisschen schneller. Mein Selbstvertrauen wächst um ein paar Zentimeter. Und mein innerer Angsthase bekommt die leise Ahnung, dass er vielleicht gar kein Hase ist – sondern ein sehr schlecht frisierter Löwe.
Komfortzone
Ich habe mich lange in meiner Komfortzone eingerichtet.
Sie ist gemütlich, riecht nach Routine und Erfolgserlebnissen auf Anfängerniveau.
Man weiß, was man kann – und bleibt dabei.
Das ist angenehm, aber auch ein bisschen wie ein ewiger Probelauf ohne Premiere.
Der Haken daran: Wenn ich immer nur tue, was ich schon kann,
dann verpasse ich irgendwann, wer ich noch sein könnte.
Denn Mut wächst nicht aus Sicherheit, sondern aus Unsicherheit.
Aus diesem Moment, in dem man denkt: Ich kann das nicht.
Und dann trotzdem anfängt.
Die Angst vor dem kalten Wasser
Neulich habe ich beschlossen, kalt zu duschen.
Nicht, weil ich wollte, sondern weil das Internet behauptet, das mache glücklich, wach und unsterblich.
Ich dreh also den Hahn auf, stelle mich drunter und jede Zelle schreit: Warum tust du das?! Wir haben eine Heizung! Wir leben im Jahr 2025!
Und genau da liegt der Punkt.
Komfort hat uns so sehr umarmt, dass wir vergessen haben, wie man sich lebendig fühlt, wenn man friert, flucht oder zittert.
Unser Nervensystem verlernt, mit Unbehagen umzugehen, weil wir es ständig vermeiden.
Aber das Leben ist kein Wellnesshotel – es ist eher ein Abenteuerurlaub mit mangelhafter Reiseleitung.
Kleine Zumutungen, große Wirkung
Ich habe angefangen, kleine Zumutungen in meinen Alltag einzubauen.
Nicht die dramatischen, lebensverändernden – keine Eisbad-Retreats, keine Wüsten-wanderungen.
Einfach kleine, gezielte Unbequemlichkeiten.
Ich laufe ohne Schirm durch den Regen.
Ich mache Dinge, die mich nervös machen.
Ich schreibe Texte, die ich eigentlich lieber löschen würde.
Und jedes Mal, wenn ich mich nicht in Watte packe, sondern mitten ins Unbehagen stelle, passiert etwas Merkwürdiges: Ich spüre mich wieder.
Scheitern erlaubt
Was mir dabei hilft?
Ich erlaube mir, zu scheitern.
Ganz offiziell, mit Brief, Siegel und einem inneren Schulterzucken.
Ich sage mir: „Wenn’s nichts wird, ist das völlig okay.“
Und genau das ist der Trick.
Weil der Druck raus ist, entsteht plötzlich Raum für Neugier.
Ich darf ausprobieren, statt abzuliefern.
Ich darf lernen, statt gleich glänzen zu müssen.
Und manchmal, ganz heimlich, gelingt dann etwas, von dem ich Wochen vorher überzeugt war, dass ich dazu niemals fähig wäre.
Das ist dieses spezielle Kribbeln zwischen „Ich fass es nicht“ und „Ich hab’s wirklich getan“.
Der Moment, in dem das eigene Selbstbild kurz ins Wanken gerät – aber auf eine gute Weise.
Mut neu definiert
Und genau da liegt der Zauber.
Nicht im Ergebnis, sondern im Versuch.
Denn jedes Mal, wenn ich etwas wage und feststelle, dass ich daran nicht zugrunde gehe,
verschiebt sich die Grenze meiner Komfortzone ein Stück weiter.
Langsam, unauffällig, aber merklich.
Ich erinnere mich inzwischen bewusst an diese Momente,
wenn ich wieder vor etwas stehe, das mich einschüchtert.
Wenn mein Kopf flüstert: „Das kannst du nicht.“
Dann denke ich an all die Dinge, die ich angeblich auch nicht konnte –
und jetzt ganz selbstverständlich tue.
Komfort ist schön. Aber Leben ist schöner.
Ich will Komfort nicht verteufeln. Ich liebe beheizte Sitze, kuschelige Decken und den Moment, wenn die Waschmaschine piept und ich weiß, dass ich heute schon etwas erreicht habe.
Aber vielleicht sollten wir Komfort wieder als das sehen, was er ist: eine Pause, nicht der Dauerzustand.
Denn jedes Mal, wenn ich denke „Ach, das muss ich mir jetzt nicht antun“,
denke ich inzwischen: „Genau deshalb solltest du es tun.“
Der Weg raus aus der Komfortzone ist nicht heroisch. Er ist nass, kalt, laut, manchmal peinlich – aber fast immer lohnend.
Weil ich dort draußen wieder merke, dass ich lebendig bin.
Und weil kein Schaumbad der Welt dieses Gefühl ersetzen kann, wenn ich etwas getan habe, das ich mir eigentlich nicht zugetraut hätte.
💬 Und du?
Wann hast du zuletzt etwas getan, das dich nervös gemacht hat – und danach gemerkt, dass du stärker bist, als du dachtest?