Moralisch neutral.
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Willkommen zur dritten Staffel meines Blogs.
In diesem Teil der Reise geht es um Sätze, die sich häuslich eingerichtet haben. In meinem Kopf. Manche wie ein bequemer Sessel, andere wie dieser eine Stuhl, an dem man sich ständig den Zeh stößt.
Bist du bereit? Dann schnall dich an – und mach dich auf einige Turbulenzen gefasst.
Kurz gelesen. Tief getroffen.
Es gibt Erkenntnisse, die fahren einem durch den Kopf wie ein Gewitter. Kein leiser Aha-Moment, kein sanftes Nicken im Chaos – sondern ein innerer Donnerschlag. So war das bei mir und dieser einen Idee aus dem Buch “How to Keep House While Drowning” von KC Davis:
„Care tasks are morally neutral.“ - Hausarbeit ist moralisch neutral.
Ich starrte auf die Seite, als hätte jemand gerade mein Weltbild mit einem Wischmopp vom Sockel geholt. Nicht, weil ich den Satz nicht verstanden hätte – sondern weil mein inneres Bewertungssystem in Flammen stand. Denn ich hatte mein Leben lang geglaubt, dass der Zustand meiner Wohnung ziemlich genau verrät, was für ein Mensch ich bin. Und zwar nicht nur, ob ich ordentlich bin – sondern ob ich etwas tauge.
Wäsche, Würde, Weltbild
Ich habe jahrzehntelang geglaubt, dass der Zustand meiner Wohnung irgendetwas über meinen Charakter aussagt. Dass jemand, der seine Wäsche nicht sofort wegräumt, es wahrscheinlich auch sonst im Leben nicht auf die Reihe kriegt. Dass ein ungeputzter Spiegel Ausdruck innerer Verwahrlosung ist. Und dass sich Menschen mit sauberen Fußleisten einfach besser im Griff haben.
Dann kam KC Davis. Und mit ihr der Satz, den ich nicht mehr aus dem Kopf bekomme:
„Care tasks are morally neutral.“
Also sinngemäß: Dinge wie Wäsche waschen, Spülmaschine ausräumen oder die Badfliesen entkalken sagen nichts darüber aus, ob man ein guter Mensch ist. Sie sagen höchstens, ob man gerade einen guten oder schlechten Tag hat. Oder eine gute oder schlechte Woche.
Oder ob man – Überraschung – gerade einfach andere Prioritäten hat. Schlafen zum Beispiel. Atmen. Leben.
Seitdem ich das verstanden habe, ist etwas in mir ruhiger geworden. Nicht unbedingt ordentlicher, aber gnädiger. Ich betrachte meine Wohnung heute nicht mehr als moralische Landkarte meiner Existenz, sondern als lebendigen Raum. Einer, in dem mal Dinge liegenbleiben dürfen. Einer, der mir nicht ständig meine vermeintlichen Defizite unter die Nase reiben muss.
Ich darf müde sein. Ich darf überfordert sein. Ich darf ein Mensch sein – auch mit Wollmäusen unter dem Sofa. Und vielleicht ist es das, was mir diese Erkenntnis so wertvoll macht:
Sie entkoppelt Leistung von Liebe. Ordnung von Wert.
Unordnung ist keine Charakterschwäche.
Wenn du das nächste Mal in deiner Wohnung stehst und dich fragst, was der schmutzige Teller über dich aussagt – versuch’s mal mit: „Gar nichts.“ Du bist nicht deine Küche. Du bist auch nicht dein Wäscheberg. Du bist ein Mensch. Mit Tagen, an denen du aufräumst, bevor du atmest – und anderen, an denen du atmest, obwohl alles rumliegt.
Vielleicht hat dieser Beitrag dir gar keine neuen Erkenntnisse gebracht. Vielleicht wusstest du das schon, seit du denken kannst – und fragst dich gerade, warum ich daraus eine große Sache mache. Oder du hast bisher geglaubt, du wärst entweder besonders ordentlich oder besonders chaotisch – und damit auch irgendwie besser oder schlechter als andere. Spoiler: bist du nicht. Sind wir alle nicht.
Ordnung ist keine Auszeichnung. Chaos kein Drama. Es ist einfach nur… Alltag. Manchmal in hübsch. Manchmal nicht.
Und wenn du das nächste Mal irgendwo zu Besuch bist – bei jemandem mit vollgestellter Spüle, vollgekrümelten Böden oder einem Wohnzimmer, das aussieht als sei irgendetwas explodiert – dann frag dich vielleicht nicht, was das über den Charakter der Person aussagt, sondern eher: Ob sie gerade einfach andere Prioritäten hat. Oder erschöpft ist. Oder zwischen zwei Lebenskrisen wohnt und froh ist, dass überhaupt jemand klingelt. Vielleicht braucht sie kein Urteil, sondern einfach einen Tee. Oder deine Spülhilfe.
Und ich? Ich habe nach wie vor Schwierigkeiten, in einer Wohnung zu leben, die phasenweise unordentlich ist. Nicht aus Prinzip – sondern, weil mein Kopf dann noch lauter wird, als er sowieso schon ist. Die äußere Ordnung hilft mir, das innere Wirrwarr wenigstens ein bisschen zu sortieren. Unordnung macht mich immer noch nervös, aber sie nagt nicht mehr an meinem Selbstwert. Und das ist, finde ich, schon ziemlich ordentlich.
💬 Und du?
Woran misst du deinen Wert – ganz ohne es zu merken? Und was davon darf heute einfach mal liegenbleiben?
🧩 Dieser Text ist Teil meiner Blogserie „Worte, die wirken“. Nächste Woche geht es um einen Satz, den du garantiert schon mal gehört hast, oder gelesen. Auf einem Wandtattoo, einer Fußmatte, als Kalenderspruch oder Kühlschrankmagnet. Und auch wenn er abgenutzt klingen mag, bleibt er für mich unbestreitbar wahr.